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Derlebacher G’schichtle Folge 48

Lesedauer: 3 Minuten

Ausreise nach Amerika via Gefängniszelle

Im Schatten der wütenden Naturgewalten und jahrelangen Missernten, die das Leben im ländlichen Deutschland des 19. Jahrhunderts prägten, wagten viele Menschen aus Dörlinbach und den umliegenden Dörfern Schuttertal und Schweighausen einen mutigen Schritt in die „neue Welt“. Rund 900 Männer und Frauen verließen im Laufe des 19. Jahrhunderts ihre vertraute Heimat im hinteren Schuttertal auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen. Doch dieses große Abenteuer war nicht für alle ein Zuckerschlecken!
Derlebacher Gschichtle Folge 48
Nehmen wir zum Beispiel Wendelin Müllerleile (Jahrgang 1839). Der Schneidermeister, ein Mann mit einer bewegten Vergangenheit, heiratete im September 1865 Katharina Beyer (Jahrgang 1843) und beschloss kurzerhand, seine Zelte in Deutschland abzubrechen. Zuvor war er bereits mit Euphrosine Gerber (Jahrgang 1841) aus Forchheim verheiratet gewesen und hatte mit ihr einen Sohn, Gustav, der 1864 geboren wurde. Die aktuelle Ehefrau gebar ihm einen weiteren Sohn und zwei Töchter.
Derlebacher Gschichtle Folge 48
Außenwandgemälde in der Brandhalde (Anwesen Kaspar). Hans Buschs Erstlingswerk an Dörlinbachs Hauswänden, das er im August 1975 fertigstellte.
Derlebacher Gschichtle Folge 48
Wendelin stand vor einer unmöglichen Wahl: Sein jüngster Sohn, der dreijährige Emil, war krank und nicht transportfähig. Nach reiflicher Überlegung gab er Emil in die Obhut seiner Schwester Franziska (1833 bis 1893) und ihrem Ehemann Michael Weber (1829 bis 1887). Mit einem feierlichen Versprechen versicherte Schwager Michael, sich um den kleinen „Kämpfer“ zu kümmern, solange bis Emil entweder stirbt oder zum Vater nach Amerika gebracht werden kann, oder bis er seinen Lebensunterhalt selber verdienen kann. Ein gelungener Plan, könnte man meinen – wenn da nicht das Gesetz wäre! In der Nacht vom 3. auf den 4. März 1868 sollte es losgehen. Doch Wendelin Müllerleile kam nicht weit. Um halb Zwei wurde er auf der Straße bei Münchweier verhaftet. Und eine Stunde später fand er sich im kalten Amtsgefängnis von Ettenheim wieder. Und das nur, weil er sein krankes Kind zurückgelassen hatte. Am Morgen wurde Wendelin dem Richter vorgeführt, der ihm die Gelegenheit gab, seine Geschichte zu erzählen.
Der Gerichtstermin: Ein Schicksalswechsel
Wendelin erklärte dem Amtsrichter, dass sein kleiner Emil nun mal nicht reisen könne. Er sei seit seiner Geburt kränklich und nicht transportabel. Weiter legte Wendelin dem Gericht jenes Dokument vor, das Michael Weber ausgestellt hatte – eine Art Pflegevertrag, der besagte, dass Emil in guten Händen war. Der Richter las die Erklärung und nickte. Offenbar war er bereit, Wendelin die Freiheit zu gewähren. Dank dieser rettenden Erklärung durfte Wendelin schließlich das Gefängnis wieder verlassen und seine Ausreise fortsetzen – nicht jedoch ohne seine Frau und zwei weiteren Kindern im Schlepptau. Bei den beiden Kindern handelte es sich um den einzigen Buben, den er mit seiner ersten Frau hatte, Gustav, und um die gerade einmal eine Woche alte Luise. Mit seiner zweiten Ehefrau Katharina hatte er übrigens noch eine weitere Tochter namens Maria, die jedoch fünf Tage vor der Geburt von Luise im Alter von 20 Monaten und zwei Tagen gestorben ist.
Was geschah mit Emil?
Während Wendelin mit Katharina und den beiden gesunden Kindern nun das Abenteuer Amerika erneut antreten konnte, blieb Emil in der Obhut der Webers. Die Vorfreude auf ein neues Leben in Amerika überlagerte die Sorgen um den zurückgelassenen Emil. Das Schicksal des kleinen Emils bleibt jedoch bis heute ein Rätsel. Wo führte das Leben ihn hin? Wuchs er in einer liebevollen Umgebung auf oder musste auch er schwer kämpfen? Zu Klein-Emil sind leider keine weiteren Lebensdaten bekannt.

Eine Zeit voller Abenteuer, Hoffnung und Tragik

Die Geschichte von Wendelin Müllerleile und seiner Familie sowie seinem mutigen Schritt ins Ungewisse ist mehr als nur eine Anekdote über die Auswanderung. Sie ist ein Zeugnis für die Herausforderungen und das Streben nach Glück in einer Zeit, die oftmals gnadenlos war. So lebt die Legende der Müllerleiles weiter und bleibt ein Teil der Dörlinbacher Aussiedler-Geschichten – ein Erinnerungsstück an eine entscheidende Zeit voller Abenteuer, Hoffnung und Tragik.

Veröffentlicht am 4. Dezember 2024 / red

Visuelle Impressionen zur Geschichte:

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