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Als einzige Hoffnung bleibt die Auswanderung

Lesedauer: 3 Minuten

Dörlinbacher Familien gründen Yankeetown-Red Brush

Im Schatten der Naturkatastrophen und jahrelangen Missernten, die das Leben im ländlichen Deutschland im 19. Jahrhundert prägen sollten, erlebten viele Menschen in Dörlinbach und den umliegenden Dörfern Schuttertal und Schweighausen eine dramatische Wende. Laut einem Zustandsbericht aus dem Februar 1854 an das Großherzogliche Bezirksamt Lahr, erging es nicht nur den mittellosen, landlosen Einwohnern schlecht; auch wohlhabende Familien verloren bald alles und sahen sich in einer verzweifelten Lage.
Das Pfarrhaus mit der 1885 erbauten Kirche St. Rupert in Yankeetown-Red Brush. Die kleine Holzkirche wurde 1902 durch eine neue Kirche ersetzt.
Angesichts dieser Umstände blieb vielen nur die eine Option: die Auswanderung. Rund 900 aus dem hinteren Schuttertal machten sich im Laufe des 19. Jahrhunderts auf den Weg in die „neue Welt“. Ob sie heimlich entwischten, um dem Militärdienst zu entkommen, oder ob sie mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren – die Sehnsucht nach einem besseren Leben in Übersee ließ niemanden unbeeindruckt. Auch kinderreiche Familien, Witwen mit ihren Kindern und alleinstehende Mütter gaben der Gefahr der Überfahrt und der Unsicherheit auf einem fremden Kontinent kein Gehör. Sie wagten das Ungewisse.
Das Grab des ersten Dörlinbacher Einwanderes: Felix Haberstroh (1815 bis 1900).
Außenwandgemälde in der Brandhalde (Anwesen Kaspar). Hans Buschs Erstlingswerk an Dörlinbachs Hauswänden, das er im August 1975 fertigstellte.
Der Friedhof von St. Rupert, wo viele Auswanderer begraben liegen. Im Hintergrund sieht man die Ökonomiegebäude von dem gebürtigen Dörlinbacher Anton Kaiser.
Die Reise begann für viele im französischen Hafen Le Havre. Je nach Windverhältnissen dauerte es sechs bis acht Wochen, bis die Segelschiffe die Ostküste Amerikas erreichten. New York war ein beliebter Zielhafen, während andere bis nach New Orleans segelten, um von dort die Raddampfer auf dem Mississippi und Ohio-River zu nutzen. Unter diesen Abenteurern befanden sich zahlreiche Dörlinbacherinnen und Dörlinbacher, die sich schließlich im Herzen Amerikas niederließen.
Die Gründung von Yankeetown-Red Brush
In der neuen Welt begannen die Einwanderer, kleine Siedlungen zu errichten, deren Mittelpunkt oft eine Kirche und eine Schule bildeten. So entstand auch die Siedlung Yankeetown. Die ersten Dörlinbacher, die sich um 1842 am Ohio in Indiana niederließen, waren Felix Haberstroh (1815 bis 1900) und Anton Fischer (1820 bis 1882). Berichten zufolge ermutigten diese beiden Männer in Briefen ihre früheren Mitbürger, sich ihnen anzuschließen. Zwischen 1850 und 1875 folgten zahlreiche Familien und Einzelne dem Aufruf und siedelten am Ohio-River, wo sie als Farmer tätig wurden. Bis zur Jahrhundertwende blühte die Siedlung und entwickelte sich zu einem wirtschaftlich prosperierenden Gemeinwesen. Es gab eine Schule, eine neue Kirche, ein Pfarrhaus und einen ortsansässigen Pfarrer. Die Dörlinbacher Einwanderer fanden schnell Anschluss zu den irischen und englischen Siedlern und bewiesen sich als fähige Landwirte. Dennoch störte sie die Ortsbezeichnung „Yankeetown“, die den Einfluss anderer Einwanderer widerspiegelte. Schließlich fanden sie schnell einen neuen Namen: Red Brush. Dieser spiegelte die Schönheit der Umgebung wider, mit ihrer üppig blühenden Busch-Vegetation im Frühjahr und dem rötlich schimmernden Prärie-Gras in den kühleren Monaten. Die Geschichte der Dörlinbacher Auswanderer ist ein eindrückliches Beispiel dafür, wie Verzweiflung in Hoffnung verwandelt werden kann – ein Zeugnis des menschlichen Willens, die eigene Zukunft selbst in die Hand zu nehmen.
Schicksale fern der alten Heimat

Ein Blick auf die Dörlinbacher Aussiedler zeigt aber auch, dass nicht alle, die sich auf die gefährliche Reise in die neue Welt begaben, Glück hatten. Einige verloren ihr Leben auf den gefährlichen Gewässern des Eriesees oder ertranken in den unberechenbaren Strömungen des Little Pigeon Rivers. In unserem Blog-Beitrag „Schicksale fern der alten Heimat“ vom 10. August 2021 wird näher auf diese tragischen Geschichten eingegangen.

Veröffentlicht am 10. Mai 2024 / red

Visuelle Impressionen zur Geschichte:

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