Seite wählen

Ein Blick in die Vergangenheit moralischer Werte

Lesedauer: 3 Minuten

Volksgerichtsbarkeit mit einem besonderen Ritus

In einer Zeit, in der gesellschaftliche Normen und Sitten von großer Bedeutung waren, spielten Ruggerichte eine zentrale Rolle in der Vermittlung von Moral und Anstand. Die Wurzel dieser Tradition liegt im altbekannten Brauch des „ruegen“, bei dem Kontrahenten vor dem Pfarrer zusammentrafen, um sich gegenseitig ihrer Sünden zu bezichtigen. Doch anstatt zur Reinigung der Seelen führte dieses Ritual oft zu mehr Streit und Uneinigkeit – so entstanden die Ruggerichte, die nicht nur einfache Versammlungen waren.
Auszug aus dem Protokoll des Jahres 1845, als der Amtsvorstand des Großherzoglichen Bezirkamts Ettenheim ein Ruggericht durchführte.
Sie waren mythisch inszenierte Veranstaltungen, die einen eigenen Verfahrensritus entwickelten und oft eine spezielle Sprache verwendeten. Hierbei wurde die Schuld des Angeklagten nicht durch Bestrafungen, sondern durch den öffentlichen Druck der Gemeinschaft thematisiert. Ziel war es, dass der oder die Betroffene aus Scham über das Gelächter der Anwesenden sein angeprangertes Verhalten ablegte – ein Mechanismus, der stark auf die sozialen Bindungen und die dazugehörigen Ängste der damaligen Zeit setzte.
Ein Blick in die Vergangenheit mit dem alten Kirchlein aus romanischer Zeit. Als diese Aufnahme entstand galten hohe moralische Werte in Dörlinbach.
Außenwandgemälde in der Brandhalde (Anwesen Kaspar). Hans Buschs Erstlingswerk an Dörlinbachs Hauswänden, das er im August 1975 fertigstellte.
Ein Blick in die Vergangenheit mit der wohl ältesten Aufnahme des Dorfes. Damals galten hohe moralische Werte in Dörlinbach.
Im kleinen Ort Dörlinbach wurden solche Ruggerichte ebenfalls abgehalten. Ein besonders bemerkenswerter Fall stammt aus dem Jahr 1845, als der Amtsvorstand des Großherzoglichen Bezirkamts Ettenheim ein Ruggericht durchführte. In diesem Protokoll, das später im Dörlinbacher Heimatbuch von 1995 festgehalten wurde, finden sich zahlreiche interessante Punkte, die den moralischen Zeigefinger der damaligen Zeit deutlich machen. Unter Punkt zwei wird beispielsweise den Viehbesitzern auferlegt, ihr Vieh nur unter Aufsicht auf die Liegenschaften auszutreiben – ein klarer Hinweis auf die Verantwortung in der Landwirtschaft. Wenige Absätze weiter erfährt man, dass die Versteigerung von Liegenschaften im Gemeindehaus stattzufinden hat und nicht in den Wirtshäusern. Diese Regelung soll wohl sicherstellen, dass die moralische Reinheit des Dorfes gewahrt bleibt.
Moralische Kontrolle im Alltag
Die nächsten Punkte des Protokolls sind durchzogen von der Forderung nach moralischem Verhalten aller Gemeindeangehörigen. So wird zum Beispiel gefordert, dass die „Weibspersonen“ streng überwacht werden müssen. Verdächtige Lebenswandel sollten sogleich gemeldet werden, um der Gemeinde eine finanzielle Last durch uneheliche Kinder zu ersparen – ein deutlicher Verweis auf die gesellschaftlichen Vorstellungen von Anstand und Ordnung. Selbst der Bürgermeister blieb von diesen moralischen Erwartungen nicht verschont. Von ihm wurde erwartet, dass er bei Hochzeiten oder anderen feierlichen Anlässen Maß halten und stets nüchtern agieren sollte. Dies zeigt, wie sehr die gesellschaftliche Kontrolle schon auf höchsten Ebenen etabliert war.
Ein Appell an die Tugend
Das Protokoll schließt mit einem eindringlichen Appell an alle Gemeindevertreter. Sie sollten nicht nur in ihren Handlungen mit gutem Beispiel vorangehen, sondern auch die moralischen Grundwerte der Gemeinschaft stets stärken. Von der Überwachung der Einhaltung von Sonn- und Feiertagen bis hin zum vehementen Kampf gegen Trunksucht und Wucherei – die Liste der moralischen Imperative ist lang und zeugt von einem tief verwurzelten Pflichtbewusstsein. Insgesamt gibt das Protokoll des Ruggerichts einen faszinierenden Einblick in die gesellschaftlichen Normen und Werte vergangener Zeiten. Es wird deutlich, dass die Kontrolle des individuellen Verhaltens durch die Gemeinschaft eine zentrale Rolle spielte und dass die moralische Integrität für das soziale Zusammenleben von höchster Wichtigkeit war – ein Thema, das auch in der heutigen Zeit seine Relevanz nicht verloren hat.

Veröffentlicht am 30. April 2024 / red

Visuelle Impressionen zur Geschichte:

Das könnte Dir auch gefallen:

Bank nicht gleich Bank

Bank nicht gleich Bank

Wo immer wir lang gehen und Ruhe suchen, wo immer wir hingehen und Verschnaufen wollen, wir suchen am besten ein Bänkle, auf dem wir uns...

mehr lesen
Erinnerungen an vergangene Zeiten

Erinnerungen an vergangene Zeiten

Erinnerungen an vergangene Zeiten werden oft durch alte Dokumente wachgerufen. Sie ermöglichen uns einen Einblick in das Leben vergangener Generationen und lassen uns die Geschichte...

mehr lesen
Zeitreise in die Vergangenheit

Zeitreise in die Vergangenheit

Heutzutage sind Postkarten als Kommunikationsmittel fast verschwunden, aber sie bleiben faszinierende Zeugnisse vergangener Zeiten. Die farbenfrohen Lithographie-Abbildungen, die Fotos von Gasthöfen...

mehr lesen
Schicksale fern der Heimat

Schicksale fern der Heimat

Im 19. Jahrhundert wanderten zahlreiche Familien nach Amerika aus. Nicht allen Dörlinbacherinnen und Dörlinbacher war dabei das Glück hold. Zu denen, die ihr Glück auf...

mehr lesen
Die Ersterwähnung

Die Ersterwähnung

Ausgehend von den Jubiläumsfeierlichkeiten im Jahre 1975 und einem päpstlichen Bulle aus dem Jahre 1225 kann Dörlinbach im Jahre 2025 sein 800-jähriges Bestehen feiern. Diesem...

mehr lesen
Wenn die Schutter überschwappt

Wenn die Schutter überschwappt

Wenn die Schutter überschwappt, dann ist im Dorf höchste Alarmstufe angesagt. So richtige Schutter-Hochwasser waren eigentlich im Ort schon lange nicht mehr präsent. In diesem...

mehr lesen
Über 100-jährige Theater-Tradition

Über 100-jährige Theater-Tradition

Theateraufführungen haben in Dörlinbach eine lange Tradition. Weit über 100 Jahre ist es bereits her, dass zur Advents- und Weihnachtszeit gespielt wurde. Zu den ersten...

mehr lesen
Der Verwaltungssitz

Der Verwaltungssitz

Am 1. Januar 1974 schlossen sich die bis dahin eigenständigen Gemeinden Schuttertal, Dörlinbach und Schweighausen zur neuen Gemeinde Schuttertal zusammen. Das Rathaus im Ort Dörlinbach...

mehr lesen
Baumstämme als Blumentröge

Baumstämme als Blumentröge

Dörlinbach sollte in den 1990er-Jahren ein neues Antlitz bekommen (siehe dazu Blog-Beitrag „Für ein schöneres Dörlinbach“ vom 17. Mai 2021). In jenen Jahren war auch...

mehr lesen
Für ein schöneres Dörlinbach

Für ein schöneres Dörlinbach

„Das Dorf wird nicht umgekrempelt, es sollen nur markante Punkte in Übereinstimmung mit Eigentümern und Anliegern geändert werden“, so Bernhard Himmelsbach (Jahrgang 1940) im Juni...

mehr lesen

0 Kommentare

Einen Kommentar abschicken

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Favicon
doerlinbach800.de
Die rechte Maustaste ist nur für eingeloggte Benutzer verfügbar